Polnischer Herbstanfang

Ankunft in Stare Masiewo. Nach über fünf Stunden Fahrt von Warschau steigen wir aus dem Auto und strecken uns. Wir atmen die frische, klare Landluft ein. Die Grillen zirpen noch vergnügt, aber es liegt schon Herbst in der Luft. Es riecht leicht erdig-feucht, nach Herbstwald eben. Über uns erstreckt sich ein sternenklarer Himmel, man kann sogar die Milchstraße erkennen. Aus dem Augenwinkel erhasche ich eine Sternschnuppe.

Wir beziehen das Holzhaus, das Martins polnischer Kollege und Freund P. zusammen mit seiner Frau E. für uns gebucht hat. Hier werden wir die nächsten zwei Tage verbringen. Es ist ein altes Haus, das wohl vor Kurzem renoviert wurde. Alle Wände sind mit warmen Holz getäfelt, es gibt zwei große Kachelöfen und wir fühlen uns sofort wohl.

Unser Zuhause für zwei Tage

Jetzt sind wir also da, im Naturschutzgebiet Puszcza Białowieska, von dem uns P. schon so viel erzählt hat. An der richtigen Aussprache werden wir die nächsten Tage noch arbeiten: Puschtscha Bia-uo-wieska (das durchgestrichene l ist sowas wie das englische w in „world“, das w spricht man wie w in „Wetter“ aus). Überhaupt kämpfen wir etwas mit der polnischen Aussprache und scheitern sogar an den einfachsten Wörtern. Dobranoc (Gute Nacht) und Tak (Ja) geht ja noch, aber schon mit dziękuję (Danke, ungefähr Dschieunkujeu ausgesprochen) und cześć (direkt übersetzt d’Ehre, wird als Hallo verwendet und Schteischtsch ausgesprochen) haben wir große Schwierigkeiten. Zurück zum Białowieska-Wald: dieser umfasst eine Fläche von über 1.500 Quadratkilometer und liegt auf beiden Seiten der polnisch-weißrussischen Grenze. Ein Teil des Waldes ist seit 1976 UNESCO-Weltnaturerbe und ist besonders geschützt, denn er beinhaltet einen der letzten zentraleuropäischen Urwälder. In diesem sind 12.000 Tierarten, darunter Wisente, zuhause. Wisente sind europäische Bisons und können bis zu 1,80 Meter hoch und 800 Kilogramm schwer werden. Ob wir wohl welche zu Gesicht bekommen werden?

Morgennebel in Stare Masiewo

Der nächste Tag beginnt mit einem wolkenlosen Himmel und Vogelgezwitscher. Anfangs liegt noch Nebel über den Feldern, aber dieser lichtet sich schnell und es liegt ein herrlich sonniger Herbsttag vor uns, wie man ihn sich schöner nicht vorstellen kann. Bevor wir zu unserer Waldwanderung aufbrechen, begrüßen wir noch die zwei Esel und Ziegen, die in einem Stall hinter unserem Häuschen zuhause sind. Streicheln finden sie in Ordnung, aber mit trockenem Brot füttern ist doch viel interessanter!

Am heutigen Programm steht eine Waldwanderung – unsere beiden Gastgeber haben sich einen über 20 Kilometer langen Weg für uns ausgesucht. Ob so eine Unternehmung schon als Wanderung gilt – das Gelände hier ist komplett flach – oder als langer Spaziergang bezeichnet werden muss, darüber waren wir uns nicht ganz einig. Fakt ist jedenfalls, dass wir am Ende die gegangenen Kilometer deutlich in den Beinen spürten und alle reif für ein Nachmittagsschläfchen waren. Die Morgensonne hatte nicht zu viel versprochen, wir hatten tatsächlich einen großartigen  Tag im Wald! Es wechselten sich verschiedene Waldformen ab, mal reiner Laubwald, mal Mischwald, mal dichter Baumwuchs, dann wieder helle Lichtungen… Im Gegensatz zu Oxford hat der Herbst hier schon begonnen die Bäume bunt anzumalen und wir erfreuten uns an den gelben, braunen und roten Blättern, die fröhlich tanzend von den Bäumen fielen. Besonders beeindruckt haben uns die riesigen, jahrhundertealten Eichen. Die größte unter ihnen war so groß, dass wir sie zu viert nicht umarmen konnten. Anders als die alten Eichen, die man von Dorfplätzen oder Gasthäusern in Österreich kennt, sind diese hier hochgewachsen und schlank, über 40 Meter hoch. Hier einige Eindrücke  von unserem Tag im Wald:

Zu Ende gegangen ist dieser tolle Tag bei einem traditionellen ost-polnischen Abendessen bei einer Familie im Ort. Nach einer Gemüsesuppe gab es babka ziemniaczana, eine Art Erdäpfelkuchen, die für diese Region besonders typisch ist. Zur Nachspeise wurde uns ein Marcinek-Kuchen serviert (Marcinek ist die Verkleinerungsform von Marcin=Martin, wie passend!), der aus unzähligen Blätterteig- und Schlagoberscreme-Schichten besteht.

Am Sonntag hieß es früh aufstehen, denn unsere geführte Tour durch den geschützten Urwald – hier kommt man nur mit Eintrittskarte und Guide hinein – sollte schon um 07:30 beginnen. Zunächst war ich von diesem Urwald zugegebenermaßen etwas enttäuscht: Ich hatte mir einen wilden, dichten Wald vorgestellt, in dem die toten Bäume kreuz und quer liegen und durch den man eher durchkraxeln als spazieren muss. Der Wald wirkt erstaunlich aufgeräumt und licht, nicht sehr anders als der Wald, den wir am Vortag besucht hatten. Aber bald dringen wir tiefer in den Wald hinein und unser Guide, eine ältere Dame mit profundem Wissen zu allen möglichen Pflanzen, führt uns zu den „Sehenswürdigkeiten“ des Waldes: uralte tote Linden, die perfekt ausgehöhlt sind, umgefallene „Tausendfüßler-Fichten“, riesige Eichen, Baumpilze, die sich auf Englisch „dead man’s fingers“ nennen… Der erste Eindruck ist zwar geblieben – erstaunlich zivilisiert, dieser Urwald – aber gefallen hat uns die über zweistündige Tour dann doch sehr gut! Den Wald in den Morgenstunden zu besichtigen, war tatsächlich eine ausgezeichnete Idee, denn so konnten wir richtig miterleben, wie es im Wald immer heller wurde und die Sonne sich durch buntes Blätterwerk und Geäst ihren Weg zum Waldboden bahnte. Tiere haben wir, abgesehen von einem roten Eichhörnchen mit einer Nuss zwischen den Pfoten, leider keine gesehen, aber unsere Führerin hat uns auf die unterschiedlichsten Vogelstimmen aufmerksam gemacht. Hier nun ein paar Bilder vom Urwald und unserem Weg dorthin:

Ausklingen ließen wir dieses großartige Wochenende bei einem Mittagessen im Freien – ob es das letzte für heuer gewesen sein wird? Etwas wehmütig, aber glücklich darüber, einen für uns ganz neuen Teil Europas und etwas seiner Kultur und Natur kennengelernt zu haben, machten wir uns wieder auf den Weg zurück nach Warschau. Insgesamt war das etwas viel Fahrerei und Fliegerei für ein Wochenende, aber das hatte auch etwas Gutes, denn so hatte ich viel Zeit zum Stricken und konnte meine kunterbunten Anti-Trübsinn-Socken fertigstellen. Jetzt kann mir der nebelig-nieselige Herbst, der uns in England angeblich erwartet, nichts anhaben, oder?

2 Gedanken zu „Polnischer Herbstanfang“

  1. Hallo Ihr zwei, wo Ihr Euch überall rumtreibt.
    Etwas weiter nördlich, in der Suwalszczyzna (auch ein schönes Wort, ich liebe es: sz cz yz: sch sch sch , und alles anders) war ich mit Gabi im letzten Jahr. Dort oben an der litauischen und (jetzt) russischen Grenze kommen meine Eltern her, ursprünglich deutsches Siedlungsgebiet. Wenn es Euch nochmal dorthin verschlagen sollte: Augustow Kanal, Wigry (mit vielen Paddel- und Kanumöglichkeiten, auchTrecking) und Suwalski Park.
    Dann mal do widzenia.
    Am 16.10. können wir leider nicht, da sind wir noch in Berlin. Seid Ihr am Montag noch da?
    Liebe Grüße
    Manfred

    1. Hallo Manfred, schön, dass du auch hier mitliest! Ich habe mir gerade Bilder von der Gegend angeschaut, das wirkt wirklich sehr schön! Besonders Herbstbilder mit bunten Bäumen und Nebelschwaden habe ich tolle gefunden… Da fängt man ja sofort zu träumen an! Alles Liebe, Mimi

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